Rückschau

JVH-Delegation besuchte Europaparlament in sensibler Zeit

Konferenz mit Vize-Parlaments-Präsidentin Evelyne Gebhardt und Mittelstandspolitiker Markus Pieper MdEP – Erfolge fürs Handwerk bei den nationalen Qualifikations- und Gründungs-Standards – Erschwertes Standing der bürgerschaftlichen Interessenvertretung durchs EP – Normungswesen notwendig

Der immer prägenderen Einwirkung europapolitischer Vorgaben auf nationale und Landespolitik trägt die Journalistenvereinigung Handwerk bereits seit drei Jahrzehnten Rechnung. Aber erst zum zweiten Mal in der jüngeren Verbandsgeschichte führte eine Informationsreise der jvh vom 30. September bis 2. Oktober an den Sitz des Europaparlaments nach Strasbourg und an den Übernachtungs- und weiteren Konferenzort Durbach. Das Interesse, die konstitutionell und auch nach ihrer tatsächlichen Durchgriffs-Reichweite gestiegene Bedeutung der Arbeit des EP zu einem Zeitpunkt zu besehen und zu bewerten – mit den begrenzten verfügbaren Kommunikationsmitteln gar zu unterstützen - , zu dem eine freiheitlich-demokratische Zukunft der Volksvertretung in der Europäischen Union keineswegs mehr gesichert scheint, war ein zentrales Motiv für die Wahl des Exkursionsortes im Veranstaltungsjahr 2018.

Eine weitere Überlegung betraf die politische Zukunfts-Agenda der im Parlament vertretenen Fraktionen bzw. Parteien selbst, die im Juni 2019 eine Europawahl zu „überstehen“ haben. Nicht zuletzt wollten sich die Redakteure der Handwerksmedien bei ausgewählten Parlamentariern einen Überblick über den Stand der Willensbildung zu den aus Handwerkssicht aktuell umstrittenen Rechtsetzungs-Projekten der Binnenmarkt- und Strukturpolitik verschaffen.

Ein breit gespannter Themenbogen also; und die 16-köpfige Delegation wurde nicht enttäuscht. Einen gelungenen Startpunkt setzte bereits die Direktion Kommunikation des Europaparlaments. Head of unit Daniele Senk gab eine Überblicksdarstellung der Public Relations-Aktivitäten des EP und ging darin auf Fortschritte ein, die Geschichte und den Politikbetrieb des Europaparlaments deutlich offensiver als zuvor zu präsentieren. Wesentlicher Bestandteil dieser Strategie ist eine zeitgemäße, nach der NS-Verfolgten und späteren EP-Präsidentin Simone Veil benannte, multivisionelle Sonderausstellung für Schüler und andere Besucher, vor Kurzem mitten im Parlamentsgebäude installiert. Erstmals werben im kommenden Jahr Kurzfilme der Direktion EU-weit um eine hohe Wahlbeteiligung (Claim: „Diesmal wählst Du!“).

Im Mittelpunkt am Nachmittag stand eine jvh-Konferenz mit Spitzenabgeordneten; bestens präpariert hatte den Journalisten- und Sprecherkreis zuvor die Europareferentin des WHKT Dr. Jeanine Bucherer. Evelyne Gebhardt, Vizepräsidentin des EP, Fraktion Sozialdemokraten, und Dr. Markus Pieper von der Europäischen Volkspartei; Vorsitzender des Mittelstandskreises der CDU/CSU, bewerteten naturgemäß das politisch Erreichte unterschiedlich, aber überraschend auch die politischen Gestaltungsspielräume: im Kern optimistisch Evelyne Gebhardt; um das künftige Miteinander der Regierungs-, parlamentarischen und Partei-Ebenen von EU und Mitgliedsstaat und insbesondere um die Wahrnehmung der Erfolge der europaparlamentarischen Arbeit grundbesorgt: Markus Pieper. Beide Referenten vereinte wiederum die (Selbst)Einschätzung, die (fraktions)eigene Erfolgsbilanz falle positiv aus; und im übrigen auch ihre spürbar leidenschaftliches, ansteckendes Engagement für Europa.

Als maßgeblichste Herausforderung benannte Binnenmarkt- und Verbraucherschutzexpertin Gebhardt den Brexit. Sie gab sich zuversichtlich, dass eine Einigung zustande kommen werde, mit zwei mittelbaren, pragmatischen Effekten: das EP werde sich um 50 Plätze verkleinern, ebenso die Zahl der Kommissariate auf fünfzehn: Der Ausstieg Großbritanniens sei vor allem ein Fanal, enger zusammenzurücken, die EU-Aufgabenagenda müsse nicht zuletzt durch Verzicht auf das Einstimmigkeitsprinzip im Rat gestärkt werden; Entscheidungen und Erfolge sichtbarer gemacht; wie etwa beim Disput um die Einführung einer Dienstleistungskarte für Selbstständige, dessen Einführung das EP habe abschmettern können; „Dies hätte andernfalls eine Einführung des Herkunftsland-prinzips durch die Hintertür, also Lohn- und Sozialdumping bedeutet“, so Gebhardt. Gebhardt plädierte für ein europäisches Einwanderungsrecht; es helfe den Mitgliedsländern, ihren Fachkräftebedarf zu sichern. Gebhardt sprach sich außerdem für mehr Integration auch in der Außen- und Sicherheitspolitik aus und mahnte ein Ende der Steuergroßzügigkeit gegenüber den weltweit operierenden IT-Konzernen an. Die Bürger wollten Europa, gab sich Gebhardt überzeugt, „80 Prozent sind für die Europäische Union,“ hätten Umfragen gezeigt.

KMU-Definition ausdehnen

Die Regional- und Strukturpolitik und damit auch die Förderung von KMU und Handwerk stehen im Fokus von Dr. Markus Piepers Abgeordnetentätigkeit. Der Mittelstandspolitiker im Industrie- und Energie, im Verkehrs- und Tourismus- und im Verfassungs-Ausschuss hält unter anderem beim aktuellen Vorstoß aus der EU-Kommission und dem EU-Rat gegen, die KMU-Definition auf Unternehmen mit bis zu 3.000 auszudehnen (bislang: bis 250). Vor allem die romanischen Mitgliedsstaaten setzten auf Industriepolitik unter Einschluss großer Privatunternehmen, der sogenannten Midcaps; eine klassische Mittelstandsförderung würde ins Abseits geraten. Unmittelbare Kostengefahr sei nicht zuletzt auf Piepers Initiative abgewendet worden; vor wenigen Monaten habe der Verkehrsausschuss ein Änderungsantrag erwirkt, der verhindern sollte, dass die Lenk- und Ruhezeitregelungen für den Schwerlastverkehr generell auf Handwerkerfahrzeuge ab 3,5 Tonnen erstreckt werden. Der Ausschuss habe sich auf eine Begrenzung auf grenzüberschreitende Fahrten festgelegt (Anmerkung: Inzwischen hat das EP überraschend weitergehende Eingriffe verabschiedet).

Markus Pieper konnte das im Anhang gelistete, durchaus eindrucksvoll breite Spektrum an Aktivitäten und (Teil-)Erfolgen zugunsten des Handwerks aufrufen; an erster Stelle die vorgesehene von der Kommission intendierte Berufs- und Qualifizierungsregulierung betreffend. Pieper machte jedoch auch klar, dass auf nationaler Ebene innenpolitische – auch innerparteiliche - Überzeugungsarbeit zugunsten der Agenda der EU ein äußerst mühsames Unterfangen bleibe. Die Schuld auf Europa zu schieben, bleibe ein gern betriebenes Spiel. Ein gut halbstündiger Besuch der Plenardebatte im EP und ein kulinarischer Ausklang im historischen „Maison Kammerzell“ am Münster beschlossen einen intensiven Arbeitstag.
Thesenpapier zum Download

Im Mittelpunkt des zweiten Konferenzblocks der Exkursion am 2. Oktober stand ein vertiefender Blick auf das Zustandekommen Technischer Normen auf europäischer Ebene, einer echten „Blackbox“ unter den Rahmenbedingungen für die Handwerkswirtschaft; von besonderer Tragweite für das Baugewerbe. Benjamin Kroupa, für Normungspolitik zuständiger Referatsleiter beim ZDH, konnte in seinem Überblicksvortrag die Sinnfälligkeit einer Standardisierung von Produkt- und Leistungs-Spezifikationen und des etablierten Verfahrens nationaler und europäischer technischer Normgebung triftig belegen; Hersteller und Verbraucher benötigten Sicherheit, Wachstum und Innovation seien andernfalls unmöglich. Rund 1 Prozent des BIP sei norm-induziert. Das Handwerk sei sowohl beim Deutschen Institut für Normung als auch beim europäischen Pendant, dem CEN, grundsätzlich vertreten und mindestens repräsentiert, wenn es betroffen ist, „wenn auch nicht immer frühzeitig und durch ausgewiesene Fachexperten“, wie Stuckateurmeister Oliver Hartmann, bei den Baugewerblichen Verbänden Westfalen fürs Normungswesen zuständig, anmerkte.

Nur jede fünfte Norm wird national verankert

Die Masse der Anträge komme von der Industrie. Europäische Vorgaben sind auch bei der Normung heute „die Norm“; nur noch jede fünfte neue Vorgabe, die für Branchen der Handwerkswirtschaft beachtlich sei, werde national verankert, für wiederstreitende Normen gilt EU-weiter Harmonisierungszwang. Mängel des Systems beträfen vor allem die mangelnde Überprüfung der Umsetzbarkeit und der Marktwirkung von Normen. So würden Materialvorgaben etwa für das regelkonforme Verputzen von Wänden heute nicht mehr verständlich in konkreten positiven Handlungsschritten dargestellt, sondern seien zu einer Abfolge zu vermeidender Bauschäden mutiert.

Auch über die Frage der Transparenz und politischen Kontrolle des Normungswesens wurde debattiert: eine grundsätzliche Erkennung und Grenzziehung für ein Zuviel an Normen sei schwach institutionalisiert; und politische Einwirkung könne andererseits auch hochproblematische Züge annehmen, wie an der „Bauproduktenrichtlinie“ erkennbar, die hierzulande längst erreichte Qualitäts- und Sicherheitsstandards für den Einsatz von Zement und Verbundbaustoffen wieder verwässert hat. Fazit der Zuhörer und Diskutanden: Europäische Normgebung ist notwendig; das Handwerk, das Neuerungen vor allem umsetzt und verbreitet, seltener selbst entwickelt, kann im konkreten Prozedere jedoch schnell in die Defensive geraten.

(siehe auch Anhang: Power point-Präsentation zum Vortrag von Benjamin Kroupa). 

Fotos: Wilfried Meyer